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My was born with severe hearing loss.

«Sie ist jetzt ein Mädchen wie alle anderen hier»

Ein kurzer Film von Sonova zeigt die kleine Vietnamesin My, die ein Cochlea-Implantat trägt, beim Spazieren durch ein Viertel in Ho-Chi-Minh-Stadt. Die Autorin Nadja Einzmann hat sich von Mys kindlicher Freude und Abenteuerlust anstecken lassen und sie in Poesie verwandelt.

«Nur ihre Mutter erinnert sich noch daran, an die Zeit vor allen Geräuschen: als für My der Regen ungehört niederging, die Mofas draußen auf der Straße sich in aller Stille verausgabten und Schritte für sie genauso lautlos blieben wie jedes Lachen, Weinen oder Schreien. Damals hat sie viel geschrien, viel gewütet, erzählt die Mutter manchmal, aber My kann sich nicht daran erinnern. Sie will sich nicht erinnern an die Stille inmitten dieses Hurrikans an Tönen, dieser fremden, unhörbaren Töne. Sie will sich nur noch an die letzten Monate erinnern, an die letzten Wochen und an heute. Sie will durch Pfützen patschen, und dem Regen lauschen, der auf die Plastikplanen klopft. Sie will jedes Mofa begrüßen, dass ihr entgegenfährt und Palmblätter streicheln, bis sie zu Knistern beginnen. 

Ihre Mutter kann es manchmal noch nicht fassen, dass My jetzt „Blatt“ sagen kann und „Blume“, dass sie „Schuh“ sagen kann und „Schule“. Aber My selbst wundert sich nicht. Sie ist jetzt fünf und hat immer schon gesprochen und immer schon gehört, seit sie denken kann, seit sie sich erinnern kann, als hätte es die Zeit vor der Operation nie gegeben. Sie ist jetzt ein Mädchen wie alle anderen hier in Ho-Chi-Minh-Stadt am Ufer des Saigon-Flusses. Sie kann sich kugeln vor Lachen, wenn ihre Freundinnen ihr einen Witz erzählen, sie tanzt manchmal ausgelassen durch die Straßen zu ihrer eigenen Musik, und sie schaut auf, wenn ihre Mutter sie ruft, als sei das alles nichts Besonderes.»

 

Die Autorin

Nadja Enzmann
Die Autorin Nadja Einzmann wurde 1974 geboren und lebt in Frankfurt am Main. Sie hat Gedichte und zwei Bände mit Erzählungen veröffentlicht.Ihre Geschichten handeln von kleinen und grossen Gefühlen. Nadja Einzmanns sensibel gezeichneten Porträts verraten nicht nur etwas vom Leben, das uns umgibt, sondern auch von unserem eigenen und vom Leben selbst."Es ist schön zu sehen, wie fröhlich und weltzugewandt My ist. Sie scheint gar keine Narben zurückbehalten zu haben aus der Zeit, als sie von der Welt so abgeschnitten war.“