Nathalie Giroud: Die Frage lautet: Wie verarbeiten wir ein akustisches Signal wie Musik oder gesprochene Sprache? Die Forschungsfelder umfassen Audiologie, Gehirnforschung, Linguistik und ähnliche Gebiete. Die Audiologie beispielsweise erforscht die Vorgänge beim Hören, die Störungen des Hörvermögens sowie die Entwicklung von Behandlungsmöglichkeiten. Stefan und ich widerspiegeln diese Felder in der Grundlagenforschung und in angewandten Gebieten.
G: Im Alter verändert sich nicht nur das Innenohr, sondern auch das Gehirn. Verantwortlich hierfür ist eine dünnere Hörrinde im Hirn älterer Menschen. Sie dünnt aus. Gewisse Verknüpfungen verschwinden. Ältere Personen haben deshalb oft weniger Ressourcen, um Informationen verarbeiten zu können.
Stefan Launer: Im Alter hat man weniger kognitive Kapazität, um die gleichbleibenden Aufgaben zu lösen. Man kann einer Konversation gut folgen, wenn man sich anstrengt. Dabei wird man müde, weil man schlecht hört und sich anstrengen muss und nicht, weil man alt wird. Man braucht viel Aufwand, um Wörter zu verstehen. Wenn das Gehirn die korrekt empfangenen Signale nicht mehr richtig interpretieren kann, spricht man von einer Schallwahrnehmungsschwerhörigkeit.
L: Man unterscheidet zwischen Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit. Erstere bedeutet eine Schädigung im Gehörgang oder Mittelohr, etwa durch eine Mittelohrentzündung. In solchen Fällen erreichen Schallwellen das Innenohr gar nicht mehr oder nur noch vermindert. Eine andere Ursache können Schädigungen im Innenohr sein, das die Signale in elektrische Impulse umwandelt. Das klappt dann nicht mehr. Schwerhörigkeit zeigt sich beispielsweise, wenn man den TV laut stellen muss, häufiger nachfragen muss oder die Vögel nicht mehr zwitschern hört.
Der Wert des Hörens wird unterschätzt – das Nichthören trennt von Menschen, führt zu sozialem Rückzug und Depression. Die emotionalen Auswirkungen sind enorm.
«Wenn kein Signal mehr ins Gehirn gelangt, baut es ab. Nicht nur im fürs Hören zuständigen Bereich, sondern auch in anderen, etwa dem Hippocampus, der wichtig ist für das Gedächtnis. »
G: Die Uni Zürich forscht: Wie kann man Hör-Training alltagsrelevant gestalten? Man stellt etwa mit einem Hörgerät sicher, dass gesprochene Sprache ins Gehirn gelangt. Aber zusätzlich ist Training nötig, damit die Sprache im Gehirn verarbeitet und im Gedächtnis gespeichert werden kann. Bisher waren solche Gehirn-Trainings sehr künstlich, etwa am Computer einen Buchstaben drücken, wenn man ihn hört. Das hat dann wenig Erfolge erzielt für Schwerhörige im Alltag. Wir untersuchen auch gerade die Wirksamkeit von App-basiertem Üben von Lippenlesen. Weitere Fragen: Wie kann man das Gehirn so trainieren, dass es selber lernt mit geringeren Ressourcen umzugehen? Mit Neurofeedback – beruhend auf der Messung von Hirnströmen, die von einem Computer analysiert werden. «Gute» Hirnströme werden dann per Feedback dem Patienten zurückgemeldet und so verstärkt.
L: Die Schweiz ist für Sonova wegen dieser Forschungen sehr interessant. Deshalb haben wir eine Kooperation mit der Universität Zürich, um herauszufinden, wie man das Gehirn unterstützen kann.
G: Es ist eine Win-win-Situation, da eine sehr gute Versorgung mit entsprechenden Hörgeräten gewährleistet ist. Es gibt mittlerweile Hörgeräte, die einen grossen Teil der Arbeit des Gehirns abnehmen.
G: Die wichtigste Erkenntnis der Studie ist, dass bei älteren Menschen mit Hörverlust, die neu ein Hörgerät bekommen oder auch einen Hörgerätewechsel vornehmen, das Gehirn ungefähr zwölf Wochen intensives Training braucht, um wieder annähernd gleich gut Sprache verarbeiten zu können wie zuvor. Intensives Training in dieser Studie bedeutete, das Hörgerät mindestens zwölf Stunden pro Tag zu tragen und so das Hören mit dem Hörgerät zu üben. Viele Menschen mit Hörverlust denken, ein Hörgerät hilft ihnen unmittelbar, aber es braucht eben einen langen Atem. Dank dieser Studie ist klar, dass wir Hörverlust neu definieren müssen und nicht mehr ausschliesslich auf einen altersbedingten Schaden im Innenohr reduzieren können.
G: Sie sprechen von mehr Selbstvertrauen, weniger Stress, sie fühlen sich besser und die Lebensqualität nimmt zu. Und sie können sie zunehmend einfach und unkompliziert anwenden. Die Tragdauer hat in den letzten Jahren zugenommen auf im Schnitt 8-12 Stunden pro Tag.
«Der Wert des Hörens wird unterschätzt – das Nichthören trennt von Menschen, führt zu sozialem Rückzug und Depression.»
G: Wenn kein Signal mehr ins Gehirn gelangt, baut es ab. Nicht nur im fürs Hören zuständigen Bereich, sondern auch in anderen, etwa dem Hippocampus, der wichtig ist für das Gedächtnis. Bei Alzheimerpatienten baut der Hippocampus beispielsweise ebenfalls sehr stark ab. Trotzdem: Hörverlust führt nicht zu Demenz, ist aber ein Risikofaktor. Es gibt Studien, die verschiedene Faktoren einer Demenz untersuchen. Bluthochdruck, zu wenig Bewegung, Verlust von sozialem Austausch und weitere spielen dabei eine Rolle. Genetisch bedingte und andere unveränderbare Faktoren bilden zwei Drittel, ein Drittel aber könnte man präventiv wirksam behandeln, wie die oben genannten. Und einer der präventiven Faktoren ist das Vermeiden von oder die Behandlung von Hörverlust.
L: Australische Studien haben im September 2020 gezeigt, dass Hörgeräte zu einer Verlangsamung des Gedächtnisschwundes beitragen könnten. Es handelt sich um vorläufige, erste Ergebnisse.
L: Das Urhörgerät war die Hand hinter dem Ohr. Systematisch wurden im 16. Jahrhundert die Hörrohre angewandt. Allerdings versteckten die Adeligen alles hinter Fächern oder Perücken. Heute sind Hörgeräte vernetzt, etwa mit Mobiltelefonen oder dem TV. Künftig werden Hersteller auch optische Sensoren und Atmungsfrequenzmessung einbeziehen. Fazit: Es könnte ein multifunktionales Gerät entstehen, das auch verschiedene Gesundheitsparameter überwachen könnte und ein gesundes Leben unterstützt.
L: Das Ohr ist besser für die Gesundheitsprävention geeignet als andere Körperteile. Es hat eine sehr gute Durchblutung und weniger Störung. Am Ohr lässt sich die Herzfrequenz besser messen als am Handgelenk.
G: Geforscht wird auch an so genannten «Brain Computer Interfaces»: Sie messen die Gehirnaktivitäten. Ein Beispiel: Wenn ich mich in einem Raum befinde, in dem verschiedene Geräusche – auch Stimmen - vorhanden sind, und ich mich auf eines konzentrieren möchte: Was unternimmt das Gehirn, dass wir uns auf jemanden konzentrieren können? Dank den Messungen wissen wir es in Echtzeit und können es ins Hörgerät einspeisen. Diese Hörgeräte sind noch nicht auf dem Markt, doch es wird stark dran geforscht. Es existieren bereits Prototypen. Die Grundlagenforschung dahinter führt Untersuchungen durch, um herauszufinden, wie Aufmerksamkeit im Gehirn funktioniert. In Millisekunden!
Eine von Sonova unterstützte weltweit einzigartige Studie an der Universität Zürich kann erstmals Folgen eines altersbedingten Hörverlusts im Gehirn messen und sichtbar machen. Ergebnis: Das Gehirn braucht intensives Training, um bei einer Hörminderung mit Hörgeräten Sprache wieder besser zu verstehen.